7. Dezember
„Der Wachturm im Westen“
Als ich in meinem Bett erwachte, schien die Morgensonne zum Fenster hinein. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits Vormittag war. Verschlafen blinzelte ich in einen neuen Tag. Es dauerte einen Moment, bis ich mir klar wurde, wo ich war. Dann kamen nach und nach die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück – an den Schlitten, den nächtlichen Ausflug, und an den Mann, der sich mir gegenüber als Nikolaus vorgestellt hatte. Hatte ich das alles nur geträumt? Ich gähnte, streckte mich, und stand auf. Auf der Bettkante sitzend schaute mich im Zimmer um. Schien alles normal zu sein. Meine Schuhe, meine Jacke, meine Mütze, mein Rucksack – alles war noch genau da, wo ich es am Vorabend für den geplanten Ausflug zum Wachturm bereit gelegt hatte. Seltsam. Sehr seltsam. Anscheinend war ich gestern wirklich einfach nach dem Abendessen eingeschlafen, und hatte die ganze Geschichte mit dem Nikolaus nur geträumt. Und dabei hatte es sich so echt angefühlt. Verrückt.
Heute ließ ich es ruhig angehen. Schließlich hatte ich mir vorgenommen in diesem Urlaub bewusst auf Medien, Handy und andere technische Geräte zu verzichten. „Digital Detox“ und „Entschleunigung“ standen ganz oben auf meiner Zu-Tun-Liste. Einfach mal die Seele baumeln lassen, und die sonst so trubelige Vorweihnachtszeit besinnlich und zurück gezogen allein zu verbringen.
Für die nächsten Tage hatte ich zudem geplant in der winterlichen Landschaft Wandern zu gehen. Ich liebte lange Spaziergänge im Schnee, und hatte auch schon oft draußen übernachtet – selbst im Winter. In der Natur konnte ich den Kopf frei kriegen, und wieder lernen ganz im Jetzt zu sein. Das hatte mir früher schon gut getan, weshalb ich mir mehrere lange Wanderungen als festen Bestandteil für diese freien Wochen eingeplant hatte. Für diesen Zweck hatte ich mir auch schon im Vorfeld einige Routen, Ausflugsziele und Herbergen in der Gegend heraus gesucht. Auch die passende Ausrüstung hatte ich eingepackt – vom Schlafsack, über Schneeschuhe bis hin zum Campingkocher war alles dabei.
Und so ließ ich mir heute ein spätes Frühstück aufs Zimmer bringen, und verbrachte den Vormittag mit Recherchen über Wanderkarten, Tee trinken, und Tagträumerei. Nach einem späten Mittagschlaf – denn dieses Mal wollte ich am Abend ausgeruht sein – nahm ich mir noch ein paar Stunden, um erneut durch die Straßen zu streifen, erkundete das kleine Städtchen diesmal auch außerhalb der Stadtmauern, baute im Park einen kleinen Schneemann, und fand mich zu später Stunde bei einem leckeren Abendessen in der Gaststube des steinernen Krugs ein. Den Abend verbrachte ich mit Lesen. Kurz vor Mitternacht machte ich mich dann endlich auf der Weg zum Wachturm im Westen der Stadt. Den Weg zu finden war ja nun eine Kleinigkeit für mich, nachdem ich den Tag über genügend Zeit hatte das Städtchen ausgiebig zu erkunden. Und so fand ich mich zu nächtlicher Stunde vor dem verschneiten Turm ein. Doch die Tür unten schien verschlossen zu sein. Also klopfte ich mehrmals laut – doch ich bekam keine Antwort. Ich wartete ein paar Momente, dann klopfte ich noch einmal. Wieder keine Antwort. Es vergingen einige Augenblicke der Stille, dann rief plötzlich eine tiefe Stimme:
„Moment! Ich schicke jemanden, um zu öffnen.“
Schritte hallten durch die kleinen Fensteröffnungen wider und ein paar Augenblicke später schwang eine schwere Holztür vor mir nach innen auf. Ich wurde jäh vom hellen Lichtschein einer Laterne geblendet, und hielt mir schützend die Hand vor die Augen. Ein stummer Wächter führte mich die vielen Treppen den Turm hinauf. Oben angekommen kletterte ich in eine helle Stube mit vielen Fenstern, in welcher ein Kaminfeuer brannte. In dem Raum an der Spitze des Turmes befanden sich insgesamt drei Wachleute: Einer stand am Ausguck und ging, wie ich später feststellen sollte, immer mal wieder nach draußen, ein anderer hatte mich unten an der Tür abgeholt und hinauf geleitet, und ein weiterer saß auf einer langen Holzbank an einem Tisch, trank aus einer Tasse, und hatte sich eine Decke über die Beine gelegt. Letzterer winkte mir zu und sprach dann mit fester Stimme:
„Ich bin einer der Nachtwächter auf diesem Turm. Ich vermute mal, dass du zu mir willst“
Der Mann hatte ein kantiges Gesicht und durchdringende, blauen Augen. Er trug einen schwarzen Bart, und zudem einen dickem Wintermantel und eine dunkle Pudelmütze auf dem Kopf. Bevor er fort fuhr, nahm er noch einen Schluck dampfenden Tee aus seiner Tasse.
„Mein Freund der Bäcker hat mich schon über dein Kommen in Kenntnis gesetzt. Ich hatte eigentlich gestern mit dir gerechnet …“
Ich gab ihm zu verstehen, dass ich aufgehalten wurde, ohne vorerst weiter ins Detail zu gehen. Dann schilderte ich mein eigentliches Anliegen. Schließlich war ich hier, um einige interessante Geschichten über Advenzia und seine Bewohner zu erfahren. Auch der andere Wächter setzte sich, und goss uns zwei Tassen Tee ein. Dann herrschte ein paar Momente lang eine nachdenkliche Stille. Ohne mich direkt anzublicken antwortete mein Gegenüber:
„Der große Krämerladen ist immer einen Besuch wert … hmm … und wir haben auch eine gute Baderstube … je nachdem, wonach du suchst …“. Während er sprach, strich er sich nachdenklich mit den Fingern über den Bart.
„Ansonsten“, fuhr sein Kollege mit kratziger Stimme fort, „ist jedes Jahr am vierundzwanzigsten ein großes Fest in der Kirche. Das sollte man sich nicht entgehen lassen.“
So ging es ein paar Minuten hin und her, immer untersetzt von nachdenklichen Pausen. Einmal meldete sich auch der Kollege am Ausguck zu Wort. Während die Männer ihre Gedanken aussprachen, machte ich mir eifrig Notizen. So erfuhr ich manch interessante Dinge über sehenswerte Orte in Advenzia. Nach ein paar Minuten schwenkte das Gespräch jedoch um, und die drei gingen dazu über sich abwechselnd ein paar Geschichten aus der jüngsten Vergangenheit zu erzählen. Zunächst hörte ich noch neugierig zu, jedoch erschienen mir die Anekdoten schon kurz darauf nicht mehr besonders unterhaltsam, da mir die beteiligten Personen allesamt unbekannt waren. Es dauerte etwas, bis ich einen geeigneten Gesprächseinstieg fand. Eigentlich wollte ich mich verabschieden, und erwähnte nur beiläufig, dass ich müde sei, weil ich letzte Nacht aufgrund von seltsamen Träumen nicht so gut geschlafen hätte. Doch da wurden die Männer plötzlich hellhörig und musterten mich mit wachem Blick. Einer von ihnen fragte, was genau ich geträumt hätte, und ich erzählte es ihm. Ich wunderte mich zwar über die vielen Nachfragen nach Details, gab aber bereitwillig Auskunft, da ich mich über das Interesse freute.
„Ist das wahr?“, hörte ich schließlich einen von ihnen fragen, als ich mit meinen Schilderungen geendet hatte. Die Stimme klang mehr wie ein Flüstern. Zunächst verstand ich nicht recht, worauf er hinaus wollte. Doch ohne eine Antwort abzuwarten fügte er hinzu:
„Man munkelt, dass er aus dem alten Wald stammt. Seit jeher ranken sich Mythen und Legenden um diesen Ort. Man sagt, dass dort Hexen und Zwergenvolk leben. Keiner vernünftiger Mensch geht freiwillig in diesen Wald, vor allem nicht bei Nacht …“
Hatte ich richtig verstanden? Offenbar glaubte dieser Mann, dass ich dem Alten Nikolaus wirklich begegnet sei. Ich versicherte ihm noch einmal, dass ich das Ganze nur geträumt hatte. Doch mein Gesprächspartner schmunzelte nur vielsagend und schüttelte sachte den Kopf. „Glaub was du willst“, fuhr er fort. „Wenn du das wüsstest, was wir schon alles gehört haben …“ und er bedachte seinen Kollegen mit einem kurzen Seitenblick, welcher daraufhin langsam nickte. „Es kommt öfter vor, dass Leute hier seltsam träumen. Besonders zu dieses Zeit des Jahres, vor den geweihten Nächten, da es auf Yule zugeht … Und interessanterweise wird auch immer wieder von ähnlichen Sachen berichtet. Auch der Alte, von dem du sprachst, wird manchmal erwähnt. Er kommt, und hilft den Leuten. Scheint einer von den Guten zu sein. Brauchst also keine Angst zu haben. Aber seltsam ist das schon … “ Er machte eine kurze Pause, in welcher er einen Schluck aus seiner Tasse nahm. Dann fügte er vielsagend hinzu: „Hmm … Oder auch nicht. Je nachdem, wie man’s betrachtet …“
Nun kam auch ich ins grübeln. Ich wollte mehr erfahren, und hakte noch einmal nach. Und die Männer antworteten mir. Noch bis zum Morgengrauen lauschte ich ihren Erzählungen der Beiden über den geheimnisvollen Wald, seine wundersamen Bewohner, und die Sagen, die sich um selbige rankten.
Kurz nach dem Morgengrauen wurde ich gebeten zu gehen, da es bald Zeit für den Schichtwechsel war. Ich bedankte und verabschiedete mich. Auf meinem Weg durch die morgendlichen Straßen der Stadt, ließen mich die Gedanken an den alten Wald nicht mehr los. Die Erzählungen der Wächter hatten ein Feuer der Neugier in mir entfacht, und am Liebsten wollte ich mich gleich auf den Weg dorthin machen. Den ganzen restlichen Tag verbrachte ich in der Bücherei, und recherchierte über diesen sagenumwobenen Ort. Erst am späten Nachmittag spürte ich die Müdigkeit der durchgemachten Nacht in den Gliedern, und begab mich zurück zur Herberge. Selbst als ich später in meinem gemütlichen Bett lag, konnte ich an nichts anderes mehr denken …