19. Dezember
„Das Rettende Ufer“
Wie ein Vogel segelte ich durch die Lüfte und ließ mich von den Winden tragen. Entlang meines Weges der Sonne entgegen. Über mir der strahlend blaue Himmel und tief unter mir einige Wolkenfetzen und ein verschneiter Wald. Ich kannte diesen Wald. Es war der große, alte Wald von Advenzia. Und er war wirklich riesig. Von hier bis zum Horizont erstreckte er sich, soweit das Auge reichte. Mein Blick fiel auf eine weiß-blaue Schlange, welche sich unter mir entlang des Waldes einen Weg zwischen den Bäumen bahnte. Es war ein Fluss. Lang und ausdehnend zog er sich durch das Gehölz des uralten Waldes … Ich ließ mich etwas tiefer sinken, um ihn besser sehen zu können. Ich kannte diesen Fluss. Er kam mir bekannt vor, und ich versuchte mich daran zu erinnern, woher ich ihn kannte. Mit einem Male hörte ich das Krachen von Eis, und die Erinnerung ereilte mich so rasch und gewaltig, dass ich erschrocken nach Luft schnappte.
“Können Sie mich hören? Hallo, so sagen Sie doch etwas! Können Sie mich hören?”
Ich konnte nicht zuordnen, von wo die Stimme kam. Ich hustete aus Leibeskräften. Mein ganzer Körper schmerzte. Benommen versuchte ich zu antworten. Sobald der Husten etwas nachgelassen hatte, brachte ich nur ein benommenes Brummeln zustande. Dann verlor ich das Bewusstsein.
Das Nächste, woran ich mich erinnerte, war, dass ich unsanft in ein Zimmer mit Holzdielenboden geschleift wurde. Immer wieder schnappte ich Wortfetzen auf:
“Gerettet”, “Eis”, “Wasser” und “Feuer” waren einige davon.
Mein Körper fühlte sich schlaff und weit entfernt an. Und es gelang mir nicht meine Augen zu öffnen. Doch vor meinem inneren Auge tanzten noch immer die Farben, und machten mich schwindelig. Und noch immer suchte ich die weiße Ente. Sie flüsterte meinen Namen, doch ich konnte sie nicht erreichen. So fern, oh, so fern … So ging es eine ganze Weile. Und schlussendlich umfing mich barmherzige Dunkelheit.
Ich erwachte in einem fremden Bett. Durch das große Fenster an der Wand rechts von mir schien hell das Tageslicht herein. Erschrocken setzte ich mich auf und schaute mich wieder um. Es dauerte einen Moment, bis ich bemerkte, dass ich nicht allein im Zimmer war. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes saß eine Person auf einem Stuhl. Als sie mich erwachen sah, eilte sie sogleich aus dem Zimmer. Ich war noch zu benommen, um nachzufragen. Mein Schädel dröhnte und ich hatte schreckliche Kopfschmerzen. Mein ganzer Körper fühlte sich verkrampft an, und meine Hände waren eiskalt. Kurz darauf betraten mehrere Menschen das Zimmer: Ein älterer Mann mit rotbraunem Vollbart, gefolgt von zwei jüngeren Männern und einer jungen Frau, welche sich schüchtern, aber neugierig hinter ersterem versammelten und mich ansahen. Der Alte sah mich streng an:
“Was denken Sie sich eigentlich dabei auf dem See herum zu laufen?”, fuhr er mich an. “Sie hätten doch sehen müssen, dass das Eis nicht dick genug ist! Verdammt noch eins, um ein Haar wären Sie da draußen ertrunken! Seien sie froh, dass jemand von uns in der Nähe war, um Sie zu retten.”
Und er stieß einen Ausspruch in einer mir unbekannten Sprache aus – doch es war ohne Zweifel, dass er fluchte. Danach sah er mich noch einmal grimmig an, und verließ dann genau so schnell das Zimmer, wie er es betreten hatte.
Einer der jungen Männer trat nun an mein Bett, und ergriff mit lebhafter Stimme das Wort:
“Du musst unseren Vater entschuldigen. Er ist immer so aufgebracht, wenn er sich sorgt. In Wirklichkeit meint er es nicht so. Ich selbst bin schon mindestens vier Mal im See eingebrochen, und jedes Mal hat er ein solches Gezeter veranstaltet.”
“Ja, so ist er, unser alter Herr”, fiel ihm der andere junge Mann ins Wort, und nickte eifrig. Ersterer wollte gerade wieder Luft holen, um etwas zu erwidern, als sich die junge Frau einmischte.
“Ihr beiden, nun beruhigt euch mal! Unserem Gast klingeln ja schon die Ohren von eurem Gebrabbel!”, und zu mir gewand fuhr sie fort: “Keine Sorge, hier passiert Ihnen nichts. Sie sind im Eis eingebrochen, und waren bewusstlos. Ruhen Sie sich aus, wir erklären Ihnen alles später. Schonen Sie sich erst einmal, und kommen Sie zu Kräften. Hier wird Ihnen nichts passieren. Sie befinden sich in Atillas Haus am Rande der Hemila-Siedlung. Wir sind freundliche Menschen. Also los Jungs, raus jetzt hier!”
Und mit diesen Worten trieb sie die beiden Männer vor sich her aus dem Zimmer hinaus.