22. Dezember
„Nachbereitungen“
Am kommenden Tag räumten wir gemeinsam im Garten die Überreste der Zeremonie vom Vortag auf. Einige der Gäste waren noch da, um zu helfen, manche jedoch waren schon fort. So auch Nikolaus oder Alatar, wie er hier genannt wurde. Zu meinem Bedauern war er noch am selben Abend abgereist, sodass uns keine Gelegenheit mehr für ein längeres Gespräch blieb.
Während wir die vielen Decken der Schwitzhütte zum trocknen auf einige Wäscheleinen in Hausnähe hingen, versuchte der junge Huginn mich beiläufig auszufragen, wie ich die Zeit in der Schwitzhütte so verlebt hätte. Ich versuchte nicht unhöflich zu sein, und seiner Frage doch irgendwie auszuweichen. Schließlich wurde mir angeraten das Erlebte für mich zu behalten. Und schlussendlich war ich mir selbst noch nicht mal im Klaren, was ich da genau erlebt hatte, weshalb ich es vorerst für mich behalten wollte. Aber der junge Bursche ließ nicht locker. Bevor ich dazu kam ihn freundlich, aber bestimmt in die Schranken zu weisen, kam mir seine Mutter zuvor.
“Habe ich euch Lausbuben nicht zweifelsfrei klar gemacht, dass ihr die Leute nicht ausfragen sollt!?”, schalt sie ihren Sohn. Woraufhin dieser einen scheinbar zuvor einstudierten Schwall von Rechtfertigungen und Ausreden ergoss – was seine Mutter die Augen verdrehen ließ. Offenbar war das nicht das erste Mal, dass sie ihn wegen solcher Vorfälle ermahnen musste.
Während ich die beiden beobachtete, traf mein Blick erneut den der Hausherrin. Und wieder fragte ich mich, woher mir alte Freya so bekannt vorkam … Ihr Blick, ihre Gesten, sogar die Art und Weise wie sie sprach erinnerten mich an jemanden, den ich kannte. Aber ich kam nicht darauf, an wen.
“Wie lange beabsichtigst du eigentlich zu bleiben?”
Es war die Stimme von Diana, und die Frage galt mir. Sie traf mich unvorbereitet, denn um genau zu sein, hatte ich überhaupt kein Zeitgefühl. Die Ereignisse der letzten Tage waren so abstrus und sonderbar, dass ich nicht einschätzen konnte wieviel Zeit seit meiner Abreise aus Advenzia vergangen sein mochten. Da ich ehrlich sein wollte, teilte ich Diana diese Überlegungen mit. Erstaunlicher Weise wirkte diese ganz und gar nicht überrascht.
“Ich kann dich verstehen”, entgegnete sie “Um deine Frage zu beantworten, die Feierlichkeiten zum Yulefest, also zur Wintersonnenwende, waren dieses Jahr für den einundzwanzigsten Dezember angesetzt. Heute ist demnach der zweiundzwanzigste Dezember.”
Diese Antwort traf mich wie eine Ohrfeige. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass der Monat bereits so weit fortgeschritten war. Ich teilte den Anwesenden mit, dass mein Zug in wenigen Tagen vom Bahnhof in Advenzia aus ginge, und dass ich eigentlich beabsichtigt hatte der Weihnachtszeremonie am Heiligen Abend in der Kirche von Advenzia beizuwohnen. Denn dies war einer der vielverprechenden Ratschläge der Nachtwächter gewesen, welche ich vor meiner Abreise ausgefragt hatte. Doch nun, entgegnete ich, werde ich diese Pläne wohl verwerfen müssen, da es sicherlich mehrere Tage dauern würde, bis ich den Weg zurück durch den Wald gefunden hatte.
“Es seie denn, du fällst wieder in ein Eisloch, und kommst am anderen Ende des Waldes in einem See wieder zum Vorschein!”, rief Muninn lachend. Seine Geschwister stimmten in das Gelächter ein, und einige Umstehenden, die die Unterhaltung mitbekommen hatten, schmunzelten. Ich hingegen konnte sehen, wie ihre Mutter den dreien einen scharfen Blick zu warf. Offenbar schienen die Alten, entgegen der jüngeren Generation, meine Geschichte durchaus ernst zu nehmen.
“Nun, mein Kind. Ich muss dich leider enttäuschen, aber es wird dir wohl nicht gelingen den Rückweg nach Advenzia in zwei Tagen zu absolvieren”, sprach der alte Atilla, welcher das Gespräch ebenfalls mitbekommen hatte. Seine Frau nickte zustimmend. “Die Strecke ist viel zu weit, vor allem bei dem vielen Schnee. Und zudem kennst du den Weg nicht. Aber sei unbesorgt, du wirst deinen Zug noch bekommen. Ich werde dich morgen zum Waldrand begleiten, von wo aus du deinen Heimweg zu Fuß entlang der Handelsstraße antreten kannst.”
Auf meine Frage, wie er es bewerkstelligen wolle diese große Distanz in einem Tag zurück zu legen, antwortete mir Atilla mit seiner bassigen Stimme:
“Denkst du wir leben hier hinter dem Mond? Ganz im Gegenteil. Sogar im Winter sind wir mobiler als die meisten. Morgen werde ich dich unseren Chimori vorstellen. Dann wirst du verstehen, was ich meine.“
Und während er das sprach bemerkte ich, dass seine beiden Söhne aufgeregt miteinander tuschelten.